Neue Zürcher Zeitung, Mittwoch, 28. Februar 2001
Nicht nur die mit Literaturpreisen überhäuften und als Junggenies gehandelten DDR-Lyriker blicken zurück auf die spezifische Situation ihrer eigenen Geschichte - ihre (weit weniger beachteten) westdeutschen Kollegen tun es nicht minder. Einer von ihnen ist der im badischen Horb lebende Walle Sayer, der – 1960 in Bierlingen bei Tübingen geboren – zu den hoffnungsvollsten Stimmen seiner Generation zu zählen ist.
Seitdem er 1984 mit dem Gedichtband «Die übriggebliebene Welt» debütierte, gehört das Heraufholen der Bilder seiner Kindheit zum thematischen Mittelpunkt seines Schreibens. Es ist eine karge, reduzierte Welt, die Sayer in seinen knappen Poemen entstehen lässt: Vor sich hin dämmernde Dörfer am Rande des Schwarzwaldes, deren Fixpunkte – Sportplatz, Kartoffelacker und Dorfkneipe – nicht viel mehr als die Enge markieren.
«Zeitverwehung» hat Sayer einen seiner Gedichtbände genannt, und so wehen denn auch die so weit entrückten sechziger Jahre zu uns herüber: Dörfliche Topoi samt ihrem elementaren Inventar, dem «Höfle» in Bierlingen mit den Regenwassertonnen und dem Spaltklotz, dem «Milchhäusle», «Phantomgebäude / angegrauter Kinder, wie sie gehen, daran / vorbei mit leeren Händen, mit der Leere / in den Händen, nur im Ohr das Klappern / viel zu schwerer Kannen, ferner Ton / aus leisem Abgesang». – «Kindheitsgewöll» nennt Sayer in seinem neuen Gedichtband, «Irrläufer», seine lyrischen Notate, anspielend auf die Ballen aus unverdauten Federn, Haaren und Knochen, wie sie Raubtiere von ihrer Beute übrig lassen. Sprache wird im besten Sinne als unverdauter Rohstoff verstanden, der – statt ins Poesiealbum – besser aufs Schmierblatt passt: «Balgfetzen: aufgeschnapptes Jägerlatein. / Mein Gekritzel im unlinierten Schnee. / Auf den Rückseiten amtlicher Schreiben. / All das, was auf keine Festplatte geht. / Kuhhaut, täten die Grossväter murren.» Was draussen passiert ist und passiert, kann dieser zeitentrückten Bestandsaufnahme nichts anhaben: «Sekundenkleber, Baggerstunden und Tagestouristen / am andern End von der Welt, all das kein Zeitmass / für uns, anno heutzumals.»
Anders als sein berühmter Dichter-Vorfahr, der ebenfalls bei Horb geborene Volkskalender-Herausgeber Berthold Auerbach, entwirft Sayer mit seinen dörflichen Archetypen keine idyllisierenden Gegenwelten zur Stadt. Gleichwohl, so herb und spröde diese Gedichte auch sind – es dringt ein verhaltener Sehnsuchtston durch, der ihren eigentümlichen Reiz ausmacht. «Als es schön war, wusste ich es nicht», der wunderbar traurige Satz aus Walsers «Messmers Gedanken», den er dem Gedicht «Jugendnimbus» vorangestellt hat, gilt für den gesamten Band.
Hans Christian Kosler
Walle Sayer: Irrläufer. Gedichte. Klöpfer & Meyer, Tübingen 2000. 108 S., Fr. 28.-.