Stillleben mit Buch
DIE ZEIT Nr. 10, 1. März 2001
Den Thaddäus-Troll-Preis hat er schon bekommen, auch den Berthold-Auerbach-Preis (das war der mit den Dorfgeschichten) und den Förderpreis zum Hölderlinpreis und den Förderpreis der Hermann-Lenz-Stiftung dito. Kann man also nicht sagen, dass dieses Schwaben da unten seine Dichter darben ließe, das Dichterland Schwaben! (Schubart, Schiller, Hölderlin, Uhland, Mörike, Justinus Kerner – obwohl: Bruder Georg Kerner ist uns lieber!) Gedichte vor allem hat Walle (Walter) Sayer, geboren 1960 in Bierlingen und heute in Dettingen bei Horb zu Hause, veröffentlicht und 1995 das Prosaalbum Kohlrabenweißes. Daraus bleibt eine Miniaturen-Galerie wunderlicher Alter ganz unvergesslich, Menschen am Lebensrand, jeder für sich in einer Art von Heimat angelangt, und sei's die frohe Heimat, die nur der Wahn noch bietet.
Sayer ist ein Dichter mit Heimat, mit ziemlich viel und richtig dicker Heimat; ein Heimatdichter ist er nicht. Heimat bleibt für ihn, auch in diesem Gedichtband, nur die vergangene Zeit, das, was er am besten kennt, bis in die Winkel. Ecken, Reste, Ränder, der Platz „im Freien, hinter der Remise / neben Krempel, Kruscht und anderem Gelump" ... das alles ist der auf einen winzigen Raum, oft nur auf ein Geräusch reduzierte Ort, der wiederum überall sein könnte, Horb, Brunn, Bologna, Avignon: „Das Zuschlagen, das / Zubätschen der Tür, ihr / lautes Fallen ins Schloß, / ein Hall, der sich bricht / an den salpetrigen Wänden / des Hausgangs, wo kühle / Schatten sich zurückziehn / in die Ecken, die Decke / immer niedriger wird."
Sayer spricht leise und oft innerhalb eines Gedichts immer leiser, und die langen Zeilen zu Beginn schnurren zusammen, am Ende steht da nur noch ein Wort — keine Pointe, nur ein Ausatmen vor dem Stillsein. Alte Fotos, alte Briefe tauchen auf, in ein paar Kohlestrichen erzählt er. ein ganzes Leben daraus, wie aus diesem Liebesbrief, Plochingen, April 1930: „Vorbeiadressiert am Vaterzorn, holprige Sätze / von der Arbeit im Streckenbau, ein Zimmer / mit sechs anderen und kein Himmel / von der Schlafstatt aus, / das Hungern nach ihr: so dünn werden, / daß man durch ein jedes Flugloch paßt, / abends das Gesicht in den Spiegeln / stinkender Wirtshausaborte, die Furcht, / daß nichts mehr gut wird. Herzgrimmen, / er, als ein armer Schlucker, / drei Sterbenswörtchen, / dich, dein."
Aus den paar „holprigen Sätzen" entwirft Sayer den Lebensmoment, ganz leise faltet er ihn auseinander. Und faltet ihn, ein anderes Mal, genauso leise, in monotonen, jeweils über zwei Zeilen geführten (Halb-)Sätzen, wieder zusammen — wie in dem Gedicht Morgenandacht: „Ein kalter Rauch / hängt überm Tisch. / Der Rest vom Brot / ist hart geworden. / Der Inselumriß / eines Rotweinflecks. / Und Hausspinnen, / die sitzenbleiben. / Auf dem Grund der / leeren Gläser."
An Kaschnitz' Beschreibung eines Dorfes, ihres Dorfes Bollschweil, erinnert manches. Von Rainer Brambach, dem Basler, von Walter Helmut Fritz, dem Badener, scheint Sayer gelernt zu haben, und aus Mähren grüßt Jan Skácel herüber. Gelernt: die Kunst, aus Sprache Stille zu formen, „Stille, die einen Schatten wirft".
Ein Schattenkundler ist er, ein Vergänglichkeitskenner, und im Flutlicht des neuen Sportstadions, Stolz jeder Provinz von Hamburg bis München, sieht er plötzlich den alten Bolzplatz wieder, die „Rehe, / die ästen im Strafraum, / daß Wind zu wehen / vergaß". Und so, im Zwielicht, zwischen Bild und Erinnerung, gelingt ihm, wiederum in der Beschwörung eines Restes, Überbleibsels, das unscheinbarste, magischste Gedicht des Bandes, Fundstück: „Gezackte Ränder, Bild / vor aller Zeit: ein Schimmel / und ein Rappe, die ziehen als Gespann / die Hochzeitskutsche, abgewandt / die schöne Braut, die so das wollte, / drauf bestand, niemand / hat gewußt warum."
Braucht seine Zeit, die Kunst des Walle Sayer. Braucht einen Winkel, eine Ecke. Wird aber bleiben.
Benedikt Erenz
Walle Sayer: Irrläufer
Gedichte; Verlag Klöpfer & Meyer, Tübingen 2000; 108 S., 28,- DM