Maskenspiel auf dem Giftberg

Rudolf Stirn verpflanzt E.T.A. Hoffmann in die Gegenwart

Wo liegt Backpfeif? Es könnte sich um eine süddeutsche Kleinstadt handeln, der richtige Name ist allerdings nicht überliefert. Denn zur ‘Wiederbelebung’ des Ortes nach einer Brandkatastrophe vor 20 Jahren hat sein Archivar Blindwurz es gemäß dem Leitspruch seiner Bewohner "Wenn dir einer die Backe hinhält, hau druff und pfeiff dir eins" kurzerhand in Backpfeif umgetauft. Zu Hause labt sich eben jener Archivar aus einem angeblich gestohlenen goldnen Tropf mit sogenanntem atlantischen Gold, einem besonders kostbaren Liquor. Die Anspielungen auf den Archivarius Lindhorst in E.T.A. Hoffmanns Märchen Der goldene Topf sind natürlich unüberhörbar. Doch nicht nur die Schrulligkeit und Spleenigkeit der Figuren, auch das Ineinander von Alltäglichkeit und Phantastik, Banalität und Hintergründigkeit in Stirns Erzählung erinnern, allerdings mehr motivisch als stilistisch, an den romantischen Dichter.

Um den Backpfeifer Marktplatz herum passieren ziemlich skurrile Dinge: Der promovierte Comicologe Lars Schnuppentrieg ist verzweifelt damit beschäftigt, Zapperflixl, ein Fernsehmonster für das Vorabendprogramm des Backpfeifer Privatsenders schneller Süden, zu kreieren. Als er diesem Unwesen gerade die Backpfeifer Mundart beizubringen versucht, tritt ein roboterartiges Wesen dazwischen und zwingt den Fernsehproduzenten zu einem ‘Schauplatzwechsel’ per Tastendruck. Kommentar des Eindringlings: "Alles im Griff. Auftrag Giftbergräumung wird erledigt." Der Konnektor Maulpann von der Lehr- und Mehr-Anstalt wiederum, der Hoffmanns Konrektor Paulmann nachgebildet ist, observiert die Szene-Kneipe ‘Video-Klick’ nach verdächtigen Gestalten unter den Vormittags-Kippern - seine Schule hat ganz offensichtlich ein Problem. Als der Observierende von dem eindeutig eingeweihten Gedicht-Rezitator Beerwanger auf das Problem angesprochen wird, bestreitet er es vehement. Moment mal - war nicht eine analoge Geschichte gerade in der Zeitung zu lesen?

Wie dem auch immer sei, konstatierbar ist der Tod von Bankdirektor Vollbreit, der tatsächlich einem Telefonattentat zum Opfer gefallen ist. Wie das geschehen konnte, und vor allem, wer dahinter steckt, bleibt bis zum Schluss rätselhaft. Rudolf Stirn meidet den logisch zwingenden Zusammenhang. Statt mit dem didaktischen oder politischen Zeigefinger auf seine Leser zu zielen, (ver)führt er sie zum eindeutig Mehrdeutigen und regt sie auf solche Weise zum Selber-Denken an: War es etwa die Öko-Mafia, deren ‘20-Jahre- Juppiter-Kampagne’ noch auf Hochtouren läuft? Vieles spricht dafür, zählt doch sogar der Papst zu ihren Public-Relations-Helfern. Andererseits sollte Vollbreit genau zum Zeitpunkt des Mordes einer Nieren-Sofort-Transplantation unterzogen werden - ein Umstand, der eher auf die Organspende-Mafia schließen lässt. Dass überdies der Konnektor seine Tochter Brenna mit dem Referendar Wandelbusch ausgerechnet auf dem örtlichen Giftberg in flagranti ertappt, kann da wohl nicht nur als ironische Draufgabe auf eine komische Provinz-Maskerade gelesen werden: Der durch und durch ernste politische Hintergrund schließt auch noch einen vertuschten Giftmüll-Skandal mit ein! Oder besteht der ‘eigentliche’ Skandal vielleicht gerade in der undurchdringlichen Verfilzung der vielen Skandale?

Wie schon in seinem Buch Mörike, der Kanzler, Kleiner und Ich verbindet Rudolf Stirn auch in diesem Buch Hoffmanneske Skurrilität mit einem gesellschaftskritischen Blick für aktuelle Probleme wie Gen-Technologie, politischer Filz, Drogenmißbrauch und nicht zuletzt Terror. Passend zur Situationskomik ist sein Stil von geradezu lapidarer Präzision und Kürze. Der Satz über Schnuppentriegs Zapperflixl-Erfindung gehört bereits zu den längeren: "Es war der einzig lichte Gedanke, den er in die Götterdämmerung seiner Bildschirm-Karriere mitnehmen konnte." - Ein vielerorts erst noch zu erhellender Autor! 

ULRICH MÜLLER


Rudolf Stirn: Der goldne Tropf. Erzählung aus Backpfeif, Weissach i.T.: Alkyon-Verlag 2001. 125 S., 18,80 DM.

Ders.: Mörike, der Kanzler, Kleiner und Ich. Capriccio, Weissach i.T.: Alkyon-Verlag 1997. 111 S., 18,80 DM.