Gerhard Staub, Winnenden

Rezension zu Rudolf Stirn. Der goldne Tropf. Erzählung aus Backpfeif. Alkyon-Verlag 2001

Im Alkyon-Verlag ist eine Erzählung mit dem mehrdeutigen Titel «Der goldne Tropf» erschienen. Wer am Tropf hängt, dem geht es bekanntlich nicht gut, und wer einen guten Tropfen zu schätzen weiß, dem mag die gute Laune auch noch vergehen, sollte er es denn so übertreiben wie die Punschtrinkenden Herren in E.T.A. Hoffmanns romantischer Märchenerzählung mit dem Titel «Der goldne Topf». Worum geht es in der «Erzählung aus Backpfeif»? In aller Kürze gesagt: um merkwürdige Dinge, die in einer schwäbischen Kleinstadt geschehen. Um etwas mehr Licht in die dunklen Geschehnisse und Machenschaften zu bringen, die sich dort auf dem Marktplatz, dem so genannten «Giftberg» und in den angrenzenden Örtlichkeiten wie Kneipen und Archiven ereignen, muss man die wichtigsten Akteure kennenlernen. Da wäre einmal zu nennen ein Werbefachmann namens Dr. Schnuppentrieg, der sich hochtrabend Comicologe nennt. Er taucht zu Beginn der Erzählung in jenem schwäbischen Örtchen auf, wird vermittels einer intelligenten Maschine von einer undurchsichtigen sektiererischen Gruppe entführt und zu einem aberwitzigen Mordanschlag auf einen Bankdirektor gezwungen. Da wäre als zweites zu nennen der in genanntem doppelten Sinn am Tropf hängende Stadtarchivar namens Blindwurz, dessen Wurzeln zurückreichen bis zu dem Archivarius Lindhorst in E.T.A. Hoffmanns Märchenerzählung. Dieser Analogie verdanken etliche andre Figuren ihre Existenz, etwa der Konnektor genannte Maulpann (alias Konrektor Paulmann) und dessen Tochter Brenna (alias Veronica) und statt des Studenten Anselmus im «Goldnen Topf» ein gewisser Referendar Hans Wandelbusch; nicht zuletzt aber auch eine von der Buchhändlerin bis zur ökobewegten Radikalaktivistin sich wandelnde Frau Wälzer, die der Autor (etwa boshaft?) dem Hoffmannschen Hexenweib nachgebildet hat. Der Vollständigkeit halber sei letztens ein gewisser Schaufelbein erwähnt, der – auf sonderbare Weise (der Autor macht's möglich, schließlich hat er auch diese Erzählung als Eberhard Marheinike geschrieben!) dem «Backnanger Hutzelmännchen» entflohen – kurzzeitig nächtens die Erzählbühne betritt, um sich mit einer Puppe namens Eduard (gemeint ist Eduard Mörike) klagend über die erbärmlichen neuen Zeiten zu unterhalten, die insbesondre das menschliche Ohr auf so ungehörige Weise traktieren.

Zunächst aber muss wohl die Frage beantwortet werden, was den Autor bewog, E.T.A. Hoffmanns «Goldnen Topf» als zweiten und gleichsam doppelten Boden zu benutzen. In ETA Hoffmanns Erzählung geht es um die Ambivalenz eines Lebens, das zwischen zwei Polen hin und her zuckt. Hier die bürgerlich-reale Lebensbeschränktheit bis hin zur spießbürgerlichen Enge, dort eine aus dieser sich befreiende gleichsam aufatmende «goldene» Existenz, wie sie dem Künstler vorschwebt, die aber entweder utopisch oder – wie Atlantis – längst untergegangen ist. Dem Romantiker Hoffmann macht es keine Schwierigkeiten, Atlantis im blauen Zimmer des Archivars wiedererstehen und – wenigstens mit einem ironischen Augenzwinkern – das goldne Zeitalter anbrechen zu lassen, sodass der Student Anselmus im Zauberreich die vollkommene Liebe mit Serpentina, der feenhaften Tochter des Archivarius, findet, während seine lang geliebte brave Veronika eine biedere Bürgersfrau wird. Der Giftberg zu Backpfeif vermag solche Wunder natürlich nicht zu vollbringen. Statt ins utopische Atlantis in höhere Sphären hinaufzusteigen, stürzt der Archivar Blindwurz, nicht zum ersten Mal durch zu vielen guten Tropfen benebelt, in ein dunkles Untergeschoss, wo die Ökosektierer ihr Unwesen treiben und den Archivar keine liebliche Serpentina umschlängelt, vielmehr eine rabiate, immerhin durch leichte Bekleidung betörend wirkende Frau Wälzer ihm eine Backpfeif' gibt. Auf den untersten Boden der ach so tristen Tatsachen (manche schnippischen Anspielungen auf VIPs der Zeitgeschichte sind eher überflüssig) fällt schließlich alle Utopie: die hohe Literatur ist zur Minidruck-Presse zusammengeschrumpft, auf der man nur noch dümmliche Slogans druckt. Dichtung ist verkommen zu Mundartgequatsche («ällemol druff!») und Werbung, welche eine die Ohren schmerzende unselige Allianz mit Videoclips und Videocomics eingegangen sind. (Literatur kommt nur noch in Form einer leblosen Puppe namens Eduard vor, die der bedauernswerte Schaufelbein wie ein verwirrter Hölderlin an der Hand neben sich her zieht.) So weit die Kulturkritik, die der Autor wie einen hüpfenden Lachsack auf den Backpfeifer Marktplatz (mit Fernziel deutscher Kulturbetrieb) geworfen hat.

Eine Antwort bleibt uns der Autor allerdings – und das beklagenswerter Weise – schuldig. «Und wird Konnektor Maulpanns Tochter Brenna den Referendar Wandelbusch am Ende kriegen?» so lautet die letzte Frage des Buchinformationstextes. Wer wollte das nicht gerne wissen? Brenna (alias Veronica) trifft sich mit Referendar Wandelbusch (alias Anselmus) auf dem Giftberg, wird aber vom ungehobelten Vater Maulpann unsanft aus ihren Liebesträumen und den Armen Wandelbuschs gerissen – und aus ist die Liebesgeschichte. Einfach aus? Sehr verehrter Herr Dichter, das können Sie mir als Leser doch nicht antun! Vielleicht aber gibt der Name Wandelbusch (Wandel!) einen dieses scheinbare erzähltechnische Missgeschick erklärenden Hinweis: Wo Zeit und Ort durcheinander geraten, ebenso wie reale und fiktive Personen – wer weiß, ob nicht Wandelbuschs weiteres Schicksal schon in der Erzählung wiederum zeitlich vorweggenommen wurde in der dem Autor sehr nahestehenden Person des Lehrers Schaufelbein (alias –?)

Wie dem auch sei: die schillernde Mehrschichtigkeit und Fantastik macht diesen passagenweise auch melancholischen Erzählpunsch (übrigens einfach wunderbar illustriert von Michael Blümel) zu einem empfehlenswerten Aufputschmittel für hirnleere Stunden. Für die Folgen übernehme ich indes keine Haftung! – Von welchem Tropf soll ich soeben berichtet haben?

Copyright © g.s. 2001


Rudolf Stirn: Der goldne Tropf. Erzählung aus Backpfeif, Weissach i.T.: Alkyon-Verlag 2001. 125 S., 13 Abbildungen, 18,80 DM.